Viel Papier, aber wenig Konkretes. Diese These stellte die Moderatorin der Armutstagung in Bern zu Recht an den Anfang der Podiumsdiskussion. Das nach einem eher flachen Referat des Bundespräsidenten Alain Berset zum Rück- und Ausblick.
Die Schweiz braucht mehr Maillards
Podiumsteilnehmer Yves Maillard, SP-Regierungsrat des Kantons Waadt, scheint in diesem Land der Einzige zu sein, der seinen Worten als Magistrat auch Taten folgen lässt. „Die Reichen müssen endlich verstehen, dass ihr Leben ohne Sozialpolitik eingeschränkt wäre. Überwachungskameras, hohe Zäune, abgesehen von den Kosten, das ist doch keine Lebensqualität“, ereiferte er sich dem Publikum zugewandt. Der Strukturwandel führte in unserem Lande zu einem Kaufkraftverlust. Früher reichte ein Lohn für eine Familie. Heute benötigt eine Familie oft zwei Verdiener. In fünfzehn Jahren reichen zwei Löhne nicht mehr, wenn das so weitergeht. Aber ein dritter Mitverdiener in einer Familie ist nicht möglich. Der Druck auf die Löhne ist gewaltig, auch bei 55-Jährigen. Trotz einer politisch rechten Mehrheit, setzte Maillard in seinem Kanton einige Reformen zu Gunsten der niederen Einkommen durch. Er erhöhte die Stipendien für Junge um 50 Prozent bei gleichzeitiger Kürzung der Sozialleistungen und setzte damit die richtigen Anreize. Die Kinderzulagen wurden auf 400 Franken erhöht. Die Prämienverbilligung bei den Krankenkassen setzte der Kanton so fest, dass niemand mehr als 10 Prozent seines Einkommens bezahlen muss. Für Betreuungsstrukturen von Kindern wendet der Kanton Waadt für die kommenden Jahre 70 Millionen Franken auf, die u.a. auch in Ergänzungsleistungen für Familien fliessen. Arbeitslosen bietet der Kanton ab 60 bzw. 61 Jahren eine Überbrückungsrente bzw. Frühpensionierung an.
„Wir haben 700 Millionen in Sozialleistungen investiert, anstelle von Steuersenkungen, von denen nur die Reichen profitieren“, führte Maillard weiter aus. Und trotzdem verzeichnet der Kanton Waadt einen Steuerüberschuss. Diese Sozialpolitik hat sich gelohnt, denn damit wurde auch die Kaufkraft der Menschen gestärkt, wovon wiederum die Wirtschaft profitiert. Mit seiner Kritik gegen die IV betreffend den Schwellenwert von 40 Prozent hielt Maillard nicht zurück. „Es kann doch nicht sein, dass ein Lehrer, der zuvor 100 000 Franken verdiente, in einem Krankheitsfall von der IV 65 000 Franken erhält, ein Bauarbeiter aber mit einem bisherigen Einkommen von 65 000 Franken wegen diesem Schwellenwert leer ausgeht. Beide haben doch ein Leben lang in die IV-Kasse einbezahlt. Da muss sich dringend etwas ändern!“ Man wünschte sich als Zuhörerin, der streitbare Maillard, der gegenwärtig für das Präsidium des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes kandidiert, werde Nachfolger von Paul Rechsteiner.
Schützenhilfe erhielt Maillard auch von der Berner Stadträtin Franziska Teuscher, die lobend ihre Kita-Politik hervorstrich, ansonsten wenig kämpferische Töne von sich gab.
Wenig freundliche Worte für die Kürzungen von neun auf zweieinhalb Millionen Franken, die der Bundesrat für die nächsten fünf Jahre für den Armutsdiskurs in Aussicht stellt, fand auch Hugo Fasel, Geschäftsführer Caritas Schweiz. Die Caritas bemängelte vor allem, dass der Bundesrat auf ein Monitoring verzichtet, obwohl dieses pfannenfertig in den Schubladen der Bundesverwaltung liegt.
Lobende Worte für die Armutsarbeit hingegen fand FDP-Ständerat und Präsident des Schweizerischen Gemeindeverbandes, Hannes Germann. «Ich habe im Austausch mit den Akteuren viel gelernt. Auch ich stimmte einst im Parlament für eine Kürzung der Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Aber jetzt weiss ich, welche Auswirkungen das haben kann.» Ob die Schweiz sich Politiker leisten will, die derart viel Geld für ihre eigene Entwicklung benötigen, während die Armen in verschiedenen Kantonen mit Kürzungen der Leistungen zu kämpfen haben?
In der anschliessend kurzen Diskussion meldete sich ein praktizierender Arzt aus Zürich. Gemäss medizinischen Studien seien arme Leute in der Regel von allen Krankheiten mehr betroffen als die Reichen. Auch sterben sie früher. Der vermehrte Gang dieser Betroffenen in die Arztpraxen koste das Gesundheitswesen Milliarden. Vorstösse, wie diejenigen der Ständeräte Karin Keller Suter und Konrad Graber bezüglich Abschaffung der flankierenden Massnahmen, seien deshalb absolut kontraproduktiv. Frenetischer Applaus war ihm gewiss.
Der nachmittägliche Workshop «Integration und Arbeitsmarkt» war einer wie gehabt. Teilnehmenden wird Partizipation suggeriert, um sie ins Bündnis zu holen für eine Armutspolitik, die dasteht für Treten am Ort. Selbst der Vertreter des Arbeitgeberverbandes nickte ob dieser Analyse.
Heidi Joos