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Die Schweizer Arbeitslosenversicherung gehört zu den grosszügigsten in Europa. Aber sie ist auch eine der strengsten. Beim geringsten Verstoß kann der Arbeitssuchende bis zu drei Monate ohne Einkommen dastehen, weil er eine Sanktion erhalten hat. Es spielt keine Rolle, dass er in gutem Glauben ist und sich unterhalb des Existenzminimums befindet.

RTS 1 Beitrag vom 7.4.2022 von Raphel Engel. Übersetzung Suzanne Graf  Zur Sendung

Beispiel eines Bauzeichners, Vater von zwei schulpflichtigen Kindern, Ehemann einer behinderten Frau, arbeitet deshalb im 50% -Pensum, verlor seine Stelle, bekommt CHF 120.—Taggeld / Arbeitstag, die ALK auferlegt ihm jedoch gnadenlose Sanktionen, falls er seinen Pflichten nicht nachkommt. So wurde ihm in Neuenburg eine Stelle zugeteilt. Dies hätte lange Arbeitswege, Zeitaufwand bedeutet, was wegen seiner familiären Situation unzumutbar war. Dann reichte er seine Stellensuchnachweise 2 Tage zu spät ein. Dies wurde mit 5 Einstelltagen bestraft. Weitere Bestrafungen aus demselben Grund. Stellen für Bauzeichner seien rar und somit auch schwierig die Abgabetermine einzuhalten. Auch könne es doch immer wieder Situationen geben, welche eine Termineinhaltung für die Einreichung der Stellensuchnachweise verunmöglichten. Frage des Journalisten: «Hat ihnen die ALV geholfen, wieder auf die Beine zu kommen?» Der Arbeitsuchende Familienvater lacht zynisch. «Welche Frage! Die ALV ist nicht dafür da, uns zu helfen, sondern dafür, uns zu sanktionieren, damit sie mich möglichst schnell von der AL-Liste streichen können!»

Es gibt drei Sanktionskategorien:

  1. Bei leichten Vergehen 1 bis 15 Tage
  2. Bei mittleren Vergehen 16 bis 30 Tage
  3. Bei schweren Vergehen 31 bis 60 Tage

Beispiele von Vergehen: Mangelnde Anzahl Bewerbungen, Verspätung bei Einreichung des Bewerbungsnachweises, Verlassen einer Stelle/Temporär Stelle, Ausschlagen einer zugeteilten Stelle, welche von der ALV als zumutbar taxiert wurde, auch wenn es sich nur um eine temporäre Stelle handelt.

Willkommen im Land, in dem das Arbeiten gelobt, Stellensuche jedoch bestraft wird.

Trialogue, eine Genfer Organisation, gegründet von freiwilligen Anwälten, Tel. 022 340 64 80, leistet Hilfe. 

Ein Beispiel wird erzählt: Einem motivierten Stellensuchenden wird eine Stelle zugeteilt, die jedoch überhaupt nicht seiner früheren Tätigkeit entspricht. Von einem Tag auf den anderen sollte der Mann schwere körperliche Arbeit leisten. Seine Bitte um Hilfe wurde ihm im Betrieb verweigert. Wenn er diese Arbeit nicht leisten könne, solle er wieder nach Hause. Dies knapp zwei Stunden nach Stellenantritt. .

Folge: 31 Straftage! Die ALV kennt keine Fürsorgepflicht. Ihr ist es egal, ob die stellensuchende Person überlebensnotwendige Mittel zur Verfügung hat.

Wer führt in der Schweiz das Zepter der ALV, wo laufen die Fäden zusammen? Bundesbern, sprich das SECO ist Überwacherin der ALK. Gedankeneinwurf: Vergessen wir bei all dem nicht, dass die ALV monatlich durch eine Lohnabgabe eines jeden Arbeitnehmenden gespiesen wird.

Interview mit Herrn Zürcher:

„Herr Zürcher, welches sind die Ziele der Sanktionen?“

  1. Missbräuche vorbeugen
  2. Schadensbegrenzung bei der ALV

Ausformuliert bedeutet dies, der Gesetzgeber übt einen gewissen Druck auf den Stellensuchenden aus, damit dieser seinen Pflichten/Aufgaben als Stellensuchender nachkommt, sie ernst nimmt.

Trialogue nimmt dazu wie folgt Stellung:

«Missbräuche gibt es in jeder Versicherung. Agenten/Kontrolleure übernehmen richtigerweise die Verfolgung von Missbräuchen. Gesetze so zu gestalten, dass allfällige Missbräuche bereits inkludiert sind, ist falsch. Denn so können die Restriktionen laufend angepasst, sprich erhöht werden.»

Jährlich werden rund 90‘000 ALV-Klienten sanktioniert. Dies entspricht rund 1.4 Mio. Arbeitstagen, resp. 240 Mio. CHF /Jahr. Sprich so viel Mehrgeld in der ALK, so viel weniger im Geldbeutel der Versicherten.

Genf hat seit 2012 die höchste Sanktionssteigerung erfahren. Der Chef der ALK Genf wollte nur schriftlich dazu Stellung nehmen. Das SECO hatte festgestellt, dass die Sanktionen in Genf nicht gesetzmässig gehandhabt worden seien. 2014 wurde Genf aufgefordert ordnungsgemäss zu handeln, was diese Steigerung zur Folge hatte. Genf sei jedoch trotz den Bemühungen des SECO noch heute unter dem Schweizermittel.

Dazu nochmals Herr Zürcher: «Wir intervenieren oft in Kantonen, wenn die Sanktionspraxis nicht gesetzeskonform praktiziert wird. Es herrscht eine „Shame and Blame“. Die Zahlen werden in den kantonalen ALK publik gemacht, sodass ein gewisser Druck entsteht, sprich ein Wettbewerb spielt.»

Neuenburg gilt als Musterkanton. Hier wird bestätigt, dass die SECO Methode funktioniert. Die ALV wird als klassischer Versicherer beschrieben, der Schadensbegrenzung betreibt. Demzufolge hat der Gesetzgeber die Regeln gestaltet, dass Pflichtverletzungen seitens der Versicherten sanktioniert werden können. Diese harten Spielregeln ignorieren viele Versicherte.

Weiteres Beispiel einer sanktionierten Versicherten:

Mutter zweier Kinder, langjährige Angestellte in einer internationalen Firma, hat selber gekündigt und während der Kündigungsfrist engagiert Bewerbungen geschrieben, um so schnell wie möglich wieder eine Anstellung zu finden. Böses Erwachen: Ihre 6/7 Bewerbungen/Monat wurden als zu wenig taxiert. Sanktionierung: CHF 2‘000.—zu wenig Taggelder. Ihre Einsprache blieb erfolglos. Die Versicherte taxiert die Sanktion als unverhältnismässig.

 

Weiteres Beispiel:

Pflegefachfrau, in den 50-igern, 4 Kinder, geschieden, trat nach langer ergebnisloser Stellensuche eine befristete Anstellung an, in der Hoffnung bleiben zu können. Ihre Anstellung wurde jedoch nicht verlängert. Dann sandte sie ihre Bewerbungsausweise 20 Minuten zu spät ein, statt um 24:00 erst um 24:20h. Auch hatte sie ihre Beraterin auf der ALV nicht dahingehend aufmerksam gemacht, in der ALV gemeldet zu bleiben. Verlust entspricht gut einem Monatseinkommen.

Unser erstes Beispiel hat Rechtshilfe in Anspruch genommen und bekam Recht. Die ALV musste ihm Gelder nachzahlen. Der Prozess hat ihn jedoch an den Rand seiner Kräfte gebracht, sodass er ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen musste. Sein Hausarzt beschrieb die Sanktionskultur der ALV als entwürdigend und motivations- und gesundheitsschädigend. Heute ist der Bauzeichner selbständig erwerbend. Er schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben, ist aber froh, diese „Sanktionierungslast“ nicht mehr ertragen zu müssen.

Abschliessend wird erwähnt, dass den Arbeitsuchenden oft eine Stelle vermittelt wird, welche weit unter dem Niveau der letzten Anstellung liegt. Aus Angst vor all den Repressionen sagen die Stellensuchenden zu. Es ist jedoch erwiesen, dass die Betroffenen den Sprung zurück in die vormalige Karrierestufe kaum mehr schaffen.
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Beiträge zum Thema Menschen mit und ohne Arbeit

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